laut.de-Kritik

Das Unikat kommt Radiohead näher denn je.

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Keine Band der Welt möchte auf den Sound einer anderen Band reduziert werden. Manche Künstler rümpfen sogar schon bei unliebsamen Vergleichen die Nase. Das englische Quartett Everything Everything ist allerdings selbst dafür verantwortlich, dass es Assoziationen mit einer ganz bestimmten Band weckt: Unzählige Male zählten die ehemaligen Studenten der Musikwissenschaft die legendären Radiohead als ihre große Inspirationsquelle auf. Gerüchten zufolge benannte sich Everything Everything 2007 sogar nach den ersten Worten, die Thom Yorke auf dem Klassiker "Kid A" gesungen hat. Trotzdem haben Higgs, Robertshaw, Pritchard und Spearman mit ihren ersten vier Alben Radiohead allerhöchstens nachgeeifert, sie aber nie kopiert.

"Re-Animator", dem fünften Studioalbum von Everything Everything, merkt man den Einfluss ihrer Landsleute stärker an denn je. Neben Radiohead, dieser amtlich beglaubigten Instanz des guten Geschmacks, erinnert das Quartett über die elf Songs vereinzelt an Muse, die sie einst als Vorband auf Tour begleiteten. Und dennoch bleibt Everything Everything ein Unikat, das sich zu sehr zwischen hymnischem Synthpop sowie (im positiven Sinne) gewöhnungsbedürftigem und komplexem Art-Rock windet, als dass es sich in eine Genre-Schublade stecken ließe.

Mit "In Birdsong", "Arch Enemy", "Planets" und "Violent Sun" haben Everything Everything vier bärenstarke Singles vorgelegt, mit denen die sieben restlichen Titel auf "Re-Animator" auf den ersten Blick nicht so recht mithalten können. Lässt man das Album aber mehrmals rotieren und schenkt man ihm die volle Aufmerksamkeit, entfalten sich die von Jonathan Higgs vorgetragenen Melodien, die zu den großen Stärken der Band zählen.

"Lost Powers" funktioniert als Intro prima und stimmt gelungen auf die kommenden 40 Minuten ein. "Come on, you've only lost your mind", singt Frontmann Jonathan Higgs, als wäre der Verlust des Verstands nichts weiter als eine leichte Schürfwunde. Vielleicht lässt es sich ohne Verstand bei all den gegenwärtigen Problemen aber auch leichter leben? Diese Art von Galgenhumor findet sich auch im darauffolgenden "Big Climb". Musikalisch inspiriert von Tears For Fears und Peter Gabriel resultierte der Text in diesem Fall aus einem Gespräch zwischen Jonathan Higgs und einem Freund über dessen Selbstmordversuch: "Not afraid that it'll kill us, we are afraid that it won't" heißt es im Refrain.

Nun mag sich der Leser denken: Aha, aber wo klingt das jetzt bitte nach Radiohead oder Muse? Die Antwort liefern die nächsten Tracks. "It Was A Monstering" würde wohl ohne Probleme auf Radioheads "In Rainbows" passen, besitzt das Stück doch diese beunruhigende Schönheit, die auch Titel wie "Weird Fishes" oder "Jigsaw Falling Into Place" aufweisen. "Planets" hingegen hat etwas vom hymnischen Stadionrock von Muse. Die markanten Synths erinnern die jüngere Generation vielleicht an den Soundtrack von Stranger Things und die ältere womöglich an die 80er. "Planets" besticht mit spannendem Tempowechsel und einem hübschen Refrain, in dem Higgs sein lupenreines Falsetto für eine langgezogene Liebeserklärung gebraucht: "Can yooouuu loooove meeeeee... more than the planets?". Ist seine Angebetete etwa eine Astrophysikerin? Auch die restlichen Lyrics wirken hier eher amüsant: Zeilen wie "To the bigots in the batcave / I think some of you are permanently off my Christmas list" oder "Ooh the dancefloor is overrunning / With frat boys telling me I got no business sitting in business class" passen eigentlich nicht so richtig zum düsteren Instrumental.

Auch "Moonlight" würde wohl mit Ausnahme des Refrains auf ein Radiohead-Album passen: am besten auf das 2016 erschienene "A Moon Shaped Pool". Diesem Stück aber nur eine gewisse Ähnlichkeit zur Musik von Radiohead zu attestieren und sonst keine Worte darüber zu verlieren, würde ihm aber nicht gerecht werden. Kann sich eine Band auf einen so versierten Sänger wie Jonathan Higgs verlassen, der die unverbraucht klingenden und unberechenbaren Melodien so gekonnt verträgt, kommen am Ende so beeindruckende Songs wie das kleine, aber feine "Moonlight" heraus. Everything Everything beherrschen die lauten, epischen, opulenten Momente ebenso wie die leisen, ruhigen, minimalistischen und lassen sie gerne auch mal nebeneinander auf dem selben Song ertönen.

"Arch Enemy" ist die klassische Single: eingängig, klar strukturiert und rockig. Nach einem langen Instrumental-Breakdown endet sie mit einer laut krachenden Klimax, in der sich die vier mit ihren Instrumenten so richtig austoben. Auch das darauffolgende "Lord Of The Trapdoor" bietet Gelegenheit dafür. Rockiger als hier geht es über die insgesamt 45 Minuten des Albums nicht zu. "Black Hyena" fügt sich nahtlos daran an und erzeugt schon mit den ersten Tönen eine unangenehme Atmosphäre, die natürlich völlig beabsichtigt ist.

Über das gesamte Album hinweg bieten die Lyrics, mal vage und mal merkwürdig konkret, viel Interpretationsspielraum und stellen dabei eine große Spielwiese für eingefleischte Fans dar, die beispielsweise auf Reddit wilde Theorien über versteckte Botschaften, wiederkehrende Motive und Personen aufstellen. Starken Einfluss auf die Themen soll Jonathan Higgs intensive Beschäftigung mit der Erforschung des eigenen Bewusstseins und mit der Theorie der bikameralen Psyche genommen haben. Zeilen wie "Twenty more seconds and it could've been me / Lily-livered, living in the Holocene way" ("Moonlight") erzeugen allerdings die gewünschte Wirkung, rufen Bilder auch bei jenem Hörer hervor, der keine Lust auf derlei Gehirnakrobatik hat, und klingen einfach poetisch.

Selten hat mich in der jüngeren Vergangenheit Musik so begeistert wie die Leadsingle des Albums. "In Birdsong" verlangt die volle Aufmerksamkeit und stellt auf beeindruckende Weise Higgs gesangliche Fähigkeiten unter Beweis. Wiederholt arbeitet das Stück auf den epischen Refrain hin, mit dem Everything Everything wirklich ein Meisterwerk gelungen ist. Die für Gänsehaut sorgenden Lyrics und die immer wieder neue Höhen anstrebende Instrumentalisierung sorgen dafür, dass "In Birdsong" wunderbar als Soundtrack für einen Science-Fiction-Film herhalten könnte. Es wirkt, als hätte das Quartett hier ein fünfminütiges musikalisches Äquivalent zu Christopher Nolans "Interstellar" angestrebt, nach circa dreieinhalb Minuten die Schallmauer durchbrochen und danach die Kontrolle über das Raumschiff verloren, das sich am Ende schwerelos in den Weiten des Weltraums verliert.

Wie ein auf der Haut kitzelnder Sonnenstrahl an einem kalten Tag steigt die Gitarre auf dem vorletzten Stück "The Actor" ein. Das erstmals nach der träumerischen Bridge zu hörende, nach einer Marimba klingende Instrument verleiht dem Lied endgültig einen frühlingshaften und fröhlichen Charakter. Den Schlusspunkt des Albums setzt das laut Frontmann Jonathan Higgs größte Stück, das die Band jemals geschrieben hat: "Es ist das Lied, auf das ich am meisten stolz bin. Es klingt nicht nach uns und die Melodie ist so gut. Hier kommt einfach alles zusammen", sagt er über "Violent Sun".

Und Stolz empfindet er zurecht. Nicht nur für "Violent Sun", sondern für das gesamte Album dürfen sich Everything Everything beherzt auf die Schulter klopfen. Anfang des Jahres ist ein großer Teil der Ausrüstung durch einen Brand im Bandquartier, einer aus viktorianischer Zeit stammenden Mühle im Norden von Manchester, verloren gegangen. Ein Glück, dass "Re-Animator" zu diesem Zeitpunkt bereits fertig war.

Trackliste

  1. 1. Lost Powers
  2. 2. Big Climb
  3. 3. It Was A Monstering
  4. 4. Planets
  5. 5. Moonlight
  6. 6. Arch Enemy
  7. 7. Lord Of The Trapdoor
  8. 8. Black Hyena
  9. 9. In Birdsong
  10. 10. The Actor
  11. 11. Violent Sun

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