laut.de-Kritik

Wenn der Dancefloor zur Therapie wird.

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Boiler Room-Videos sind ein faszinierendes Internet-Phänomen. Es handelt sich dabei um nahezu ungeschnittene Aufnahmen von DJ-Sets aus aller Welt, die nicht nur den DJ zeigen, sondern auch seine unmittelbare Umgebung voller tanzender, schwitzender und nicht selten alkoholisierter, zugedröhnter oder aufgeputschter Menschen. Ein unverfälschter Live-Einblick in eine Party sozusagen, zur Musik der eigenen Wahl. Legendär ist noch immer das mittlerweile schon fast zehn Jahre alte Set von Kaytranada, das sich nicht besser beschreiben lässt als mit den Kommentaren unter dem über 18 Millionen Mal angeschauten YouTube-Video: "Every club experience you've ever had represented in one video". Oder "this set deserves a grammy and a pulitzer at the same time".

Der neueste Stern am Boiler Room-Himmel hört auf den merkwürdigen Namen Fred Again.. und hat mit seinem Set über acht Millionen Aufrufe innerhalb von nur drei Monaten erzielt: schon jetzt eines der meistangeschauten Sets unter den über 8.000 Aufzeichnungen. Wie ein Lauffeuer hat es sich verbreitet, wobei dafür weniger die Menschen und Geschichten dieser Londoner Party-Nacht auschlaggebend waren als vielmehr die zu einem großen Teil bis dato unveröffentlichte Musik des Künstlers. Mit "Actual Life 3 (January 1 - September 9 2022)" ändert sich das nun, denn dort sind fast alle Songs enthalten, die die Londoner Crowd und anschließend auch Millionen von Zuschauern aus aller Welt begeisterten.

Was im Rahmen eines DJ-Sets funktioniert, muss aber natürlich nicht automatisch im Album-Kontext funktionieren, auch wenn der britische Produzent, Multi-Instrumentalist und Songwriter Fred Gibson mit seinen 29 Jahren schon extrem viel Erfahrung gesammelt und gleich zu Beginn seiner Karriere von einem der Besten gelernt hat: Brian Eno nahm ihn 2014 unter seine Fittiche und veröffentliche zwei Alben in Zusammenarbeit mit ihm und Karl Hyde. Später folgten Kollaborationen mit Baxter Dury, Headie One, FKA Twigs, Romy (The xx), Ellie Goulding und Eminem sowie Stormzy, Justin Bieber und Ed Sheeran, die ihm 2020 als jüngster Empfänger dieses Preises überhaupt die Auszeichnung als Produzent des Jahres bei den Brit Awards einbrachte.

Auf "Actual Life 3" stellt er seine Fähigkeiten als Produzent und Songwriter eindrucksvoll unter Beweis. Kaum ein Song aus Gibsons "Actual Life"-Reihe kommt ohne Samples aus, was auch die Songtitel erklärt, die in der Regel mit dem Namen der jeweils gesampleten Künstler beginnen: "Danielle (smile on my face)" basiert beispielsweise auf 070 Shakes (bürgerlich Danielle Balbuena) "Nice To Have". Dabei verleiht er den fast schon ausdruckslos vorgetragenen Vocals der Sängerin neues Leben, indem er sie in ein euphorisches Dancefloor-Gewand zwängt, das ihnen ebenso gut zu Gesicht steht wie das von Mike Dean koproduzierte Original-Instrumental. Auch die Acapella-Version von Mustafas "Ali" platziert und rekontextualisiert Fred Again.. geschmackvoll, wobei die Umdichtung der Zeile "I need time to mourn you" für den Songtitel in "Mustafa (time to move you)" doch eher weniger geschmackvoll wirkt.

Atmosphärisch bewegt sich "Actual Life 3" zwischen Euphorie, Nostalgie, Melancholie und Romantik. Texte und Songstrukturen weisen gar einen therapeutischen Charakter auf, wenn beispielsweise in "Bleu (better with time)" mit jeder Wiederholung des Mantras "Just know that it gets better with time" die Produktion anschwellt, in "Nathan (still breathing)" der düster wummernde Bass mit der Botschaft "You're not alone / If I'm still breathing" kontrastiert oder Sängerin Kelly Zutrau im darauffolgenden Song das baldige Ende eines Albtraums heraufbeschwört.

Wie diese Form der musikalischen Therapie in der Realität aussieht, lässt sich dank des Boiler Room-Sets quasi live und in Farbe mitverfolgen. Ganz besonders das Album-Highlight "Clara (the night is dark)", das vermischt mit Fred Agains.. "Angie (I've been lost)" den Abschluss des Sets bildet, hinterlässt ein Publikum in Ekstase. Die Power der gesampleten Gospel-Hymne überträgt er schier mühelos auf den Dancefloor. Während die Nacht im Boiler Room mit "Clara" endete, setzt der Produzent auf dem Album mit "Winnie (end of me)" einen romantischen Schlusspunkt, der zur Fantasie anregt: Wäre "Actual Life 3" ein Kurzfilm, dann hätte sich die Tanzfläche nun komplett geleert, die Lichter wären ausgegangen und die beiden Protagonisten lägen sich erschöpft, aber glückselig und verliebt in den Armen, in einer Art Slowdance zu Winnie Raeder's von Fred Again.. zweckentfremdetem Gesang: "And you're smiling / Like no one ever hurt you / You will be the end of me / You will be the end of me".

Doch genug fantasiert, auch im tatsächlichen Leben ist "Actual Life 3" ein rundum gelungenes Album, das dem Hype um das Boiler Room-Set gerecht wird. Warum Pitchfork den Künstler - vermutlich abwertend gemeint - kürzlich als "Ed Sheeran of house music" bezeichnete, wird auch nach intensiverer Beschäftigung mit Gibsons Musik nicht klar, entbehrt dieser Vergleich doch jeglicher Grundlage. Weniger plakative, aber musikalisch treffendere Parallelen lassen sich beispielsweise zu Electronic-Künstlern wie Overmono, Bicep oder Jamie XX ziehen.

Die Entscheidung, keine Unterstützung von den großen und schillernden Namen aus seiner Produzenten-Vergangenheit anzufragen, sondern stattdessen auf Eigenregie und vereinzelte Kollaborationen mit spannenden Newcomern wie Berwyn zu setzen, war die richtige. Durch die Samples, für die sich Gibson in allen möglichen Genres von Gospel über Soul bis Hip Hop bedient hat, werden nicht nur Fans von elektronischer Tanzmusik an "Actual Life 3" Gefallen finden.

Trackliste

  1. 1. January 1st 2022
  2. 2. Eyelar (shutters)
  3. 3. Delilah (pull me out of this)
  4. 4. Kammy (like i do)
  5. 5. Berwyn (all that i got is you)
  6. 6. Bleu (better with time)
  7. 7. Nathan (still breathing)
  8. 8. Danielle (smile on my face)
  9. 9. Kelly (end of a nightmare)
  10. 10. Mustafa (time to move you)
  11. 11. Clara (the night is dark)
  12. 12. Winnie (end of me)
  13. 13. September 9th 2022

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