laut.de-Kritik

Am Kipppunkt der Existenz.

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"Eins zu eins ist jetzt vorbei", sang Dirk von Lowtzow noch auf dem weißen Album zum Abschied. Das war das Ende der Vereinnahmung von Tocotronic als Lieferant für Generation X-Slogans und der Beginn einer neuen Ära mit kryptischen Texten und märchenhafter, dunkler Erzählung. Die sukzessive Auflösung als reine Rockband kam gleich hinzu. Schon seit Anbeginn des 21. Jahrhunderts kappen Tocotronic die Wurzeln zu ihren Lo-Fi-Anfängen und entwickeln ihre eigene Version von Indie-Pop, in der fast kindliche und romantische Motive über die frühere Punk-Wut dominierten.

Auch auf dem dreizehnten Album "Nie Wieder Krieg" gibt es dämmrige Wälder und Monster in all ihren Facetten und Symbolen. In "Ein Monster Kam Am Morgen" wird das bedrohliche Fantasiegetier zu einer Metapher für schlechte Angewohnheiten, die einen mehrfach am Tag heimsuchen. Als "sehr alkoholgefährdert" bezeichnete Dirk unlängst seinen Konsum im Rückblick, auch Arne Zank sprach offenherzig über vergangene Suchtprobleme. Aus so etwas haben andere Künstler schon schmerzhaft anzuhörende Konzeptalben veröffentlicht. Man denke nur an Alice In Chains und ihre schonungslose Junkie-Chronik "Dirt". Ein einziger Klageschrei mit wuchtigen Metal-Riffs.

Im Toco-Universum bekommt die Fabel einer verloren wirkenden Person dagegen eine gewisse Unschuld. "Monster bring mich weg von hier (...) Eine Entführung wünsche ich mir so sehr". Der Schrecken verliert seine Kraft, wenn am Anfang eine Harfe erklingt und das Streicher-Arrangement in das orchestrierte Finale führt. Eine zärtliche Meta-Theater-Aufführung für und über Erwachsene am Kipppunkt ihrer Existenz.

"Crash" spinnt diese buch- respektive filmreife Roman-Erzählung über Kindheit, dämmrige Wälder und dem Ankommen in einem anderen, erwachsenen Lebensabschnitt weiter. Diese Form der Retrospektive tauchte auf "Wie Wir Leben Wollen" auf."Hey Hey hey Ich bin jetzt alt / Hey hey bald bin ich kalt". Den körperlichen Alterungsprozess kann auch eine juvenile Band wie Tocotronic nicht aufhalten, auch nicht den Angriff der Realität auf unbedarfte Kindheitsträume. "Mein Kopf fliegt davon / Über die Schultern / Und blickt zurück / Auf das Kind das ich war / Mit flammendem Herzen". Auch einem Toco gewährt die zerstörerische Kraft der Vergänglichkeit keine Gnade. Was geschrieben so bitter klingt, äußert sich aber in Audio überraschend munter. Ein bisschen 80er-Pop-Vibe, nahe am Ästhetik-Pop der Smiths und Morrissey, dringt in die dunkle Gedankenwelt ein. Doch die Illusion bleibt zerstört. Kein Zucker, keine Erdbeerfelder sorgen für harmonische Grundstimmung. Der Himmel über Berlin, er wirkt sehr grau.

Wie in dem direkten und offenen "Ich Gehe Unter", das mit der wunderschönen Zeile "Wir sind noch nicht vorbei, das ist ein Hilfeschrei" endet. Ein trotziges Manifest und gleichzeitig das Eingestehen der Überforderung mit allem. Wir gehen gemeinsam den Bach runter. In unseren gescheiterten Existenzen, Träumen und der pandemischen Dauerbedrohung. Punk, Indie oder Popper. Finanzbeamter oder Künstler. Zyniker und Träumer. Wir und Tocotronic.

Alle komplett bedient, verletzt und so isoliert, dass die einstmals große Koketterie mit dem eigenen Non-Konformismus nur noch lästig wirkt. "Das ist ein Lied gegen die Vereinzelung", bestätigt Dirk in "Hoffnung" diesen Wendepunkt und antwortet damit diesem zornigen Jungen aus "Freiburg", der noch "Ich bin alleine und ich weiß es und ich finde es sogar cool" aussprach. Nein, auch Misanthropen, Einzelgänger und notorische Zyniker haben verstanden, dass wir alleine nicht mehr weiter kommen. "Hier ist ein Lied, das uns verbindet". Klingt fast nach einem Liebesschwur der Ärzte und ihrem Fan-Pleaser "Ein Lied Für Dich". Der zarte Optimismus in "Hoffnung" verkündet nicht das Ende, aber doch die Möglichkeit auf Veränderung. Die traurigen Geigen negieren dazu im Hintergrund die leichte Aufbruchstimmung, fast als ob der Band ihrer Rolle als Seelentröster selber verdächtig vorkommt.

Pizza essen war auch schon erfreulicher als in "Ich hasse Es Hier". Auf dem Album "Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren" träumte man noch von einer Pizza mit dem grummeligen The Fall-Singer Mark E. Smith. In der Einsamkeit der eigenen Bude schmeckt nicht einmal die. "Wenn die Liebe endet / Ist es mitten in der Nacht / Ein Lichtschein, der mich blendet / Dringt aus meinem Tiefkühlfach / Dort liegt eine Pizza / Die ich aufzupeppen versuch / Mit Kräutern der Provence / Habe ich keine Chance". Ein Text, der genau die tragikomische Absurdität eines Single-Haushalts in Worte fasst.

Dabei ist die Vereinsamung wie in "Hoffnung" beschrieben eine dunkle Erfahrung, aber erschafft auch solche tragikomischen Momente. Wie von Lowtzow im Interview zugab, mussten sie selber über diesen humoristischen Ton lachen. Ganz nebenbei bemerkt: Der Song ist mit der catchy Melodie und dem Refrain ein Hit. Was für ein herrlicher Widersinn, wenn in Zukunft statt Grönemeyerscher Erbauungs-Pathos-Bedeutungshuberei eine ganze Konzerthalle "Ich hasse es hier / Und mich dafür" schreit und darüber selber lachen muss.

Nicht einmal dem Allheilmittel "Liebe", die - frei nach dem amerikanischen Philosophen Homer Simpson - Lösung und gleichzeitig Auslöser alle unserer Probleme ist. So erfahren wir auch durch das dreizehnte Album keine Erlösung. Kein Wunder: Zweifel, Kapitulation und Ängste gibt es auch fast dreißig Jahre nach der Bandgründung. Mit etwas Kritik könnte man sagen, dass "Nie Wieder Krieg" an die autobiografische Thematik von "Die Unendlichkeit" andockt und teilweise sehr vertraut klingt. "Hoffnung" ist mit seinem Goth-Blues nicht sehr weit weg vom Albumtiteltrack "Die Unendlichkeit", "Crash" als musikalischer Bruder der Kindheitserinnerung "Tapfer & Grausam" ebenso. Auch "Ausgerechnet du hast mich erlöst" hätte sich perfekt in das Erlösungs-Narrativ des neuen Albums eingefügt. Streng genommen taucht dieses aber schon seit dem roten Album auf.

Aber "Die Unendlichkeit" hatte noch eine gewisse Naivität, die "Nie Wieder Krieg" abgeht. "Sie verändert dich / Und dreht dich um / Und schaltet dich stumm / Und verdunkelt den Hass" ist Aufforderung und Warnung zugleich. Und doch lohnt es sich, das Risiko einzugehen. Das bisher ernsteste ('erwachsen' kommt einem immer noch nicht über die Lippen) Tocotronic-Album endet lädiert und desillusioniert, aber doch nicht gänzlich ohne Hoffnung.

Trackliste

  1. 1. Nie Wieder Krieg
  2. 2. Komm Mit In Meine Freie Welt
  3. 3. Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus
  4. 4. Ich Gehe Unter
  5. 5. Ich Tauche Auf feat. Soap&Skin
  6. 6. Ich hasse Es Hier
  7. 7. Nachtflug
  8. 8. Ein Monster Kam Am Morgen
  9. 9. Crash
  10. 10. Leicht Lädiert
  11. 11. Hoffnung
  12. 12. Liebe

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