laut.de-Kritik
Nie klang eine Tocotronic-Platte so weltoffen.
Review von Sven KabelitzBei aller Qualität, die den letzten beiden Platten "Schall Und Wahn" und "Wie Wir Leben Wollen" innewohnte, zeigt ein genauerer Blick, dass Tocotronic zum zweiten Mal nach "Es Ist Egal, Aber" in einer musikalischen Sackgasse angekommen waren. Mehr und mehr wirkten ihre Songs wie aus dem Steckkasten zusammen gesetzt, zunehmend neigten sie zum groß angelegten Selbstzitat. Einzig Dirk von Lowtzows Texte machten sich zuletzt auf den Weg zu neuen Ufern.
Anstatt weiterhin dem Stillstand zu frönen, gönnt sich die Band unter dem Banner von Kasimir Malewitschs rotem Quadrat zum zweiten Mal nach "K.O.O.K." einen Reboot. Nie klang eine Tocotronic-Platte so weltoffen, beschwingt, sanft und vom Pop geküsst. Dabei bezieht sich dessen Frische nicht etwa aus der Gegenwart, sondern aus der Vergangenheit. Ihren eigenen Sound koppelt die Instanz an New Order, The Cure, The Smiths, Edwyn Collins. Selbst A Flock Of Seagulls schauen in "Die Erwachsenen" vorbei, nur das Dirks angegraute Bryan Ferry-Frisur über weitaus mehr Stil verfügt als die von Mike Score. Sing, alter Beau, sing!
Fast scheint es, als seien seine Texte über "Liebe, Erinnerung und noch mehr Liebe" im Kontrast zu seinen euphorischen Oden auf die Akademiker-Disko entstanden. Dabei vereinigt sich von Lowtzow nicht mit der Liebe, bleibt vielmehr ein irritierter Zuschauer, der nicht wirklich versteht, was genau vor seinen Augen geschieht. Ein Data ohne Emotions-Chip.
Dies führt zu manch einer kauzigen Poesie zwischen den Extremen Rio Reiser und Nena, bei der man sich zeitweise nicht sicher sein kann, ob sich der Sänger nicht einen groß angelegten Scherz erlaubt, um seinen Kritikern die lange Nase zu zeigen. Aber egal wie man es dreht und wendet: Songzeilen wie "Ich hafte an dir / wie Tinte auf Papier / wie Sticker an der Tür" ("Haft"), "Du bist aus Zucker, du bist zart / Du schmilzt dahin, du wirst nicht hart" ("Zucker") oder "Ich will keine Punkte sammeln / Gib mir nur ein neues Leben / Ich will keine Treueherzen / Kannst du mir Liebe geben" ("Rebel Boy"), die man bei Rosenstolz noch scharf kritisieren würde, werden nicht besser, nur weil man sie nun aus dem Mund eines von Lowtzows vernimmt.
Sieht man von dieser vermeintlichen Schwäche ab, möchte man das schwelgerische rote Album gerade in seiner ersten Hälfte vom ersten Moment an umarmen und ans Herz drücken. Zuerst zaghaft verbinden sich in "Ich Öffne Mich" eine klimpernde Kalimba und einnehmender Sirenengesang zu einem euphorischer Hall, schwerelos, leicht und melodiös. Der einst so tapsige Arne Zank steigt entschlossen ein, McPhails flimmernde Gitarre erklingt entfernt und für mehr als nur einen Moment kommen Erinnerungen an U2s "Achtung Baby" auf. "Ich öffne mich und lasse dich in mein Leben", singt von Lowtzow und leitet so die endgültige Abkehr vom Diskursrock ein. An seine Stelle stellt sich ein vor Dynamik strotzendes Stück Schwerelosigkeit, traumverloren und verletzlich. "The Damned Don't Cry."
"Die Erwachsenen" führt die Atmosphäre perfekt in einer einzigen luftigen Synthesizer-Invasion weiter. Hedonistisch gibt sich der Track der von Pathos gesalbten Schönheit eines "Love Will Tear Us Apart" hin. Im augenzwinkernden Widerspruch zu sich selbst singt Dirk: "Man kann den Erwachsenen nicht trauen / Ihr Haar ist schütter / Ihre Hosen sind es auch." Ein Schelmenstück, dass im hüftsteif vorgetragenen Wort "Sexualität" gipfelt. Ein Link in die eigene Vergangenheit, in der Tocotronic auf "Digital Ist Besser" noch mit jugendlicher Überzeugung verkündeten, dass man über Sex ja nur auf englisch singen könne. In "Chaos", das von Jan Müllers einnehmenden Basslauf und akustischen Gitarren getrieben wird, spinnt sich diese erlösende Diskrepanz ohne Peinlichkeit weiter. "Unter deiner Decke / ein freundlicher Empfang / Unter deiner Decke / fasst mich das Chaos an."
Leider halten Tocotronic die Geschlossenheit der ersten Stücke nicht über den ganzen, von Moses Schneider und Markus Ganter produzierten, Longplayer aufrecht. Mit zunehmender Spieldauer zerfranst das rote Album. Das honigsüße "Zucker" benötigt einen Warnhinweis für Diabetiker, wandert zwischen übersprudelndem Sommer-Hit und Plattitüde hin und her. Mit "Solidarität" und "Spiralen" fällt die Gruppe in alte Gewohnheiten zurück, ohne bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Weitaus geschickter legen sie den Rückwärtsgang in ihrer "Jungfernfahrt" ein. Ein ebenso verklärter wie geheimnisumwitterter Blick auf die erste Liebe. Ein bildgewaltiges und beklemmendes Manifest der ersten Liebe, rätselhaft und voll skizzenhafter Erinnerungen an "Cap und Capper", "BMX-Banditen" und "Wäschespinnen" gespickt. "Hinter den Hecken, kommt ein Gewitter auf."
Nach dem sanften und von Zitaten durchwebten Schlaflied "Diese Nacht" endet die Platte mit dem ausgeschilderten Hidden Track "Date Mit Dirk". Bachgeplätscher, zirpende Vögel und ein in der Ferne vorbeirauschendes Flugzeug führen ins Grüne und leiten das nur an der akustischen Gitarre vorgetragene Lied ein. Ein verquerer und zutiefst romantischer Song voll Todessymbolik, in dem sich der Erwachsene von Lowtzow vom jugendlichen Dirk verabschiedet. Ein Lebewohl an die eigene, noch in "Die Erwachsenen" hochgehaltenen, Jugend. "Wir streunen durch die Wälder / und sehen unsere Spiegelungen / In tiefen Brunnen / und im feuchten, modrigen, vom Tau liebkosten, Wiesengrund." Welch ein Abschluss.
Zum zweiten mal nach "K.O.O.K." gelingt Tocotronic zumindest über weite Strecken eine Neuausrichtung. Wie damals wirken sie in ihrer neu geschaffenen Umgebung zeitweise verletzlich und etwas unbeholfen, was einen großen Teil des Charmes beider Alben ausmacht. Auf "K.O.O.K." folgte einst der weiße Monolith "Tocotronic". Man darf gespannt sein, was auf das rote Album folgt.
16 Kommentare mit 33 Antworten
Heißt es das rote Album, weil man davon menstruieren muss? Egal, Hauptsache Craze = dicker Hund.
Ihr habt euch in der Überschrift verschrieben, da muss arschoffen stehen.
Wenn man jungfernfahrt als lied über die erste liebe sieht, konnte "als cap und capper" durchaus ein hinweis auf dirks sexualität sein. nur mal so einen Gedanken eingeworfen.
Die Band mag sich ja im Verlauf ihrer Karriere noch so oft neu erfunden haben - zumindest behaupten das ihre Fans hartnäckig. Für mich lassen sich all ihre Entwicklungen aber nur mit "50 Shades of Boredom" zusammenfassen, denen sie mit dem roten Album sicherlich eine neue Facette hinzugefügt haben.
Och, Ragism. Bitte keine 50 Shades-Witze mehr. Die sind durch.
Denen würde ich gerne mal die Popperklopper auf den Hals hetzen!
Ich muss wirklich zugeben, dass ich dieser Platte unendlich dankbar bin. Denn dadurch, dass ich sie zufällig auf Spotify gehört habe, hat sie mich in den Tocotronic-Kosmos entführt. Ein Kosmos mit so unendlich vielen schönen Ecken, dass ich es nicht glauben möchte. Alleine "hi Freaks" ist mir jetzt schon so lange im Gehör, dass ich es nicht glauben möchte. Das ganze "Weiße Album" ist in meinen Augen und Ohren ein Fest, fast auf dem Niveau eines "Kid A" von Radiohead. Auch für "Digital ist besser" habe ich durchaus etwas übrig, auch wenn mir der Sound auf Albenlänge etwas zu roh ist.
Doch in meinen Augen das absolute Meisterwerk ist wohl "Kapitulation" mit seinen kleinen aber feinen Pop-Ansätzen und der Titelsong ist für mich Ohrwurm-tauglicher als alles, was die Mainstream-Musik in den letzten 5 Jahren hervorgebracht hat (speziell im deutschsprachigen Raum".
Deshalb kann ich auch dieses Album nicht negativ einschätzen, denn dafür ist in meinen Augen zum einen die Band zu genial und zum anderen der Ansatz zu gut.