laut.de-Kritik

Ein letztes Aufbegehren gegen die Professionalisierung des Untergrunds.

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Beim Schlagwort "Dogma" horchen zunächst Filminteressierte auf. 1995 initiierte eine Gruppe von Regisseuren um den Dänen Lars von Trier ein Manifest, das sich gegen das zunehmend effektbeladene Kino richtete. Das selbst auferlegte "Keuschheitsgelübde" forderte den Verzicht von künstlicher Beleuchtung, optischen Filtern, professionellen Kameras, Bühnenbildern, Spezialeffekten oder nachträglich eingebauter Musik. Genrefilme lehnte man grundsätzlich ab. Vor allem das erste nach diesen Vorgaben umgesetzte Werk "Das Fest" von Thomas Vinterberg hat filmhistorische Bedeutung.

Diese Form der regelbasierten Ablehnung von Perfektionismus ließ sich störungsfrei auf den Berliner Untergrund-Rap übertragen, den um die Jahrtausendwende auffällige Persönlichkeiten, aber von Hause aus geringe Budgets und technische Möglichkeiten auszeichneten. Taktloss wandte sich mit der Idee an MC Basstard, das "Dogma 95"-Konzept für ihre Rap-Musik zu übernehmen. Sie gewährten sich und ihren Produzenten für jeden Song nur zwei Stunden Zeit, um ihre Texte zu schreiben sowie alles aufzunehmen, zu arrangieren und abzumischen. Bei Überschreitung wurde das Ergebnis verworfen.

In typisch ungebührlicher Art schmähte Taktloss einige der "Abfallproduzenten", die sich für Dr. Dre gehalten hätten, aber dem Druck nicht hatten standhalten können. Einige seien "weinend zusammengebrochen" oder hätten sich in Ausreden geflüchtet. "Im Vorhinein waren alle durchweg begeistert und auch motiviert. Manche waren auch danach mit sich zufrieden und wir waren mit ihnen zufrieden", äußerte er im Hip Hop-Fachblatt Juice, "Mit den anderen haben wir keinen Kontakt mehr. Die haben versagt."

Das Konzept forderte aber gleichermaßen die beiden Rapper heraus. Mitunter seien sie "vom Schreiben direkt in die Gesangskabine gerannt", um "einen Part noch in den letzten zwanzig Minuten einrappen zu können", erläuterte Basstard gegenüber Hiphop.de, "Es ging einfach darum, unsere Spontanität und Kreativität unter extremen Bedingungen auf die Probe zu stellen und beides bis aufs Letzte herauszukitzeln." Einen Eindruck vermittelt die beiliegende "Dogma-DVD". Über zweieinhalb Stunden begleitet das spannende Zeitdokument locker aus der Hand gefilmt in Home-Video-Ästhetik die Entstehung des Albums unter Zeitdruck.

Die Grenzen zwischen Dokumentation und Inszenierung verschwimmen dabei gelegentlich, wenn sie etwa Passanten oder Edeka-Kassiererinnen nach Themenvorschlägen befragen oder befreundete Rapper die Szenen zu crashen scheinen. Da grübeln die beiden über ihren Textblättern, während im Hintergrund King Orgasmus One mit einem Nagelknipser hantiert und sein Joker-Lachen ertönen lässt, bis ihn Basstard genervt nach draußen bittet. Es bestätigt vermeintlich jene Vorstellung, nach der die Akteure des Berliner Untergrunds damals wie in einer Sitcom kollektiv aufeinanderhockten und sich gegenseitig auf den Wecker gefallen sind.

Die stümperhaft anmutende Versuchsanordnung verblasst völlig angesichts der originell performten Songs. Obwohl es nach einem "selbstzerstörerischen Korsett" klinge, seien der Horrorcore-Rapper und "Deutschraps Helge Schneider" "absolute Highlights" ihrer jeweiligen Diskografien gelungen, bewertete Daniel Fersch in 'Plattenkiste', dem 'Meilensteine'-Äquivalent von MZEE. "Dogma (Gegen Die Zeit)" erweise sich als "äußerst kohärentes Album", betonte Marc Leopoldseder in der Juice, auf dem Basstard seinem Duettpartner "in puncto Abstraktion und Eigenwilligkeit in nichts" nachstehe.

Mit dem zeremoniellen Song "Augen" legten sie den Grundstein für "Dogma (Gegen Die Zeit)". Mach One kreierte eine okkulte Atmosphäre, zu der sich Basstard geradezu in Trance rappt. Intuitiv und interpretationsoffen sinniert er über die Erleuchtung zwischen Luzifer und "Gottes Gnade". Taktloss mag sich zwar performativ der mystischen Stimmung anpassen, höhlt diese aber zugleich aus, indem er ihr jegliche Bedeutung entzieht. "Ich zwinge niemanden zur Einsicht", rappt er lapidar. "Ich schreibe auf, was mir in den Sinn kommt. Sinn oder Unsinn?" Gänzlich klären lässt sich diese Frage nie.

Taktloss' übergeordnete Mission scheint am ehesten darin zu bestehen, Erwartungen zu unterlaufen. Ein wenig erinnert er dabei an den früh verstorbenen Performance-Künstler Andy Kaufman, der anstelle der gewünschten Comedy-Einlage gerne ganze Abende nutzte, um F. Scott Fitzgeralds "The Great Gatsby" in voller Länge vorzulesen. 2004 etwa schlurfte der sonst wettbewerbsaffine Rapper nach einem Auftritt durch das Hagener Kultopia, als sich jemand vor ihm vor ihm aufbäumte und ihn zum Battle herausforderte. Unbeeindruckt nahm er dem übermütigen Fan die Basecap vom Kopf, ließ sie fallen und verschwand wortlos aus dem Jugendkulturzentrum.

Basstard besucht unterdessen den Kannibalen von Rotenburg ("Hunger"), taucht als Sektenführer in die Astrologie ab ("Sternzeichen") oder widmet sich abseitigen religiösen Ritualen ("Voodoo"). Doch zugleich verdeutlicht er mit punktuellen Botschaften, sich in einer Phase des Übergangs zu befinden. "Warum seid ihr nicht kurz still und hört uns zu? Wir haben mehr zu vermitteln als blinde Wut", beteuert er flehentlich in "2 Stunden". Mal blickt er auf die Zeit als "Asylbewerberkind" zurück ("Geld"), mal begrüßt er in weiser Voraussicht, "die Soldaten der letzten Generation" ("Krieg Und Krieg").

Bemerkenswerter als die Inhalte fallen die völlig entfesselten Vocal-Performances aus. Basstard verkörpert die Untergangsszenarien von "Sternzeichen" wie ein Schauspieler. Seine Strophe gleicht einer Beschwörungsformel, im Refrain überschlägt er sich stimmlich geradezu. In "Schachzug" klagt, leiert, quietscht und schreit er schließlich überrascht auf, als er seinem Mörder begegnet, und mit jeder Menge "Hunger" rappt sich der Berliner in Rage, bis es wie ein juveniler Xenomorph aus ihm herausbricht. "Ihr seid die Irren - ich bin als einziger normal!", kreischt er, gefolgt von närrischem Lachen.

Taktloss wirkt dem gegenüber so, als über er sich im gerappten Ausdruckstanz. Erratisch säuselt er sich durch "Wahre Worte". Als stünde er vor Gericht skandiert der Rap-Staatsanwalt zu guter Letzt "Lüge!", als er die Konkurrenz der falschen Selbstüberhöhung bezichtigt. "Augen" und "Wer Wir Sind" kommen fast gänzlich im Flüsterton daher. Allenfalls seinen Signature-Slogan "Biatch!" ruft er hie und da nachdrücklich aus. Die Grenzen des konventionellen Raps lösen sich in "Voodoo" fast ausnahmslos auf. Im Refrain raunt er lediglich den Titel, in seiner Strophe befindet er sich vollends im Hörspiel-Modus.

Auch die zahlreichen Produzenten verdienen Lob dafür, mit dem Wahnsinn der beiden Protagonisten fast durchweg Schritt zu halten. Frauenarzt lässt "Dogma" von der Leine, ein atemlos hetzendes Raubtier von einem Instrumental. Keyza Soze stapft mächtig durch das Crunk'eske Synthie-Gewitter von "Hunger". Mach One schleicht mit dem Grusel-Sound von "Voodoo" durch die nächtlichen Gassen der Hauptstadt. B-Lash ("Schachzug") und Mellow ("Wer Wir Sind") trippeln ehrfurchtsvoll um die impulsiven Rapper herum, und Skome studiert halb gezupft, halb elektronisch die "Sternzeichen".

Herrlich absurd klingt auch "Horrorclowns". Serk bediente sich dafür an der berühmten Zirkusmelodie, die wiederum auf dem Triumphmarsch "Einzug Der Gladiatoren" des österreichisch-tschechischen Komponisten Julius Fučík basiert. In der Tradition des Killer-Clowns John Wayne Gacy verbirgt sich bei ihnen das Böse nur notdürftig hinter der fröhlichen Fassade. Die hemmungslose Albernheit unterstreicht erneut die Freiheit der Figuren abseits von Authentizitätszwängen. Oder, mit Taktloss' Worten formuliert: "Wo bei den meisten der Spaß aufhört, da fängt er bei mir erst an."

Kontraintuitiv setzen Taktloss und Basstard den Schlusspunkt des Albums mit "Vorhang Auf 2". Anno 2000 dürfte der erste Teil auf "BRP 3" den Grundstein ihrer überregionalen Bekanntheit gelegt haben. Auch dem Autor dieser Zeilen öffnete einst eine gebrannte, fälschlicherweise mit "KKS" beschriftete CD die Pforten zum Untergrund-Rap. Verglichen mit dem rückblickend eher grobmotorischen Song klingt die Fortsetzung in jeglicher Hinsicht professioneller. Dennoch bezieht das Sequel seinen Charme in erster Linie daraus, ein letztes Mal auf einfachere Zeiten zurückzugreifen.

Im Rückblick wirkt "Dogma (Gegen Die Zeit)" wie ein letztes Aufbegehren gegen die Kommerzial- und Professionalisierung, die Aggro Berlin mit Sido und Bushido in Gang gesetzt hatte. 2006 rückte die zweite Reihe auf. Bass Sultan Hengzt biss sich mit "Berliner Schnauze" und "Millionär" in den Playlisten von Viva und MTV fest. King Orgasmus One entwickelte die Figur Imbiss Bronko als inklusives Gegenstück zu seiner Porno-Persona. Frauenarzt frischte frühe Hits wie "Brennt Den Club Ab" auf. Und selbst MC Bogy schnupperte trotz juristischer Scharmützel mit "Willkommen In Abschaumcity" Charts-Luft.

... und die beiden Hauptdarsteller? Basstard wuchs regelrecht über sich hinaus. Er bildete sich weiter, unterfütterte seine Schauergeschichten mit dem Horror des Alltags, kreierte die "Zwiespalt"-Trilogie sowie das wohl gelungenste Falco-Cover jemals. Mit seinem Engagement für die Menschen im Iran hat er zudem eine weitere öffentliche Rolle für sich gefunden, die er auch im Interview leidenschaftlich ausfüllte: "Der größte Antrieb ist die Hoffnung, dass man mit diesem Regime irgendwann fertig werden und dann mit einem Land mit allen Potenzialen in eine großartige Zukunft gehen kann."

An Taktloss gingen all diese Entwicklungen vorbei. Es ist leicht vorstellbar, dass ihn die Dynamik in der Szene eher abschreckte. Auf kleineren Projekten mit Justus oder The Rifleman ließ er noch von sich hören, doch in den Jahren der Funkstille drohte er stets, verschütt zu gehen. Rap blieb für den einstigen Battleking ein ewiges Improtheater, in dem allzu verkopftes Vorgehen der Kunst nur schadet. Daran änderten weder Trends noch der Zahn der Zeit etwas, mit dem er sich entgegen des "Dogma"-Konzepts eben nicht im Krieg befindet. Das konstatierte schon Jack Orsen im Interview: "Taktloss hat viel Zeit."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. 2 Stunden
  3. 3. Wer Wir Sind
  4. 4. Augen
  5. 5. Wahre Worte
  6. 6. Sternzeichen
  7. 7. Zeit Skit
  8. 8. Voodoo
  9. 9. Schachzug
  10. 10. Geld
  11. 11. Horrorclowns
  12. 12. Krieg Und Krieg
  13. 13. Hunger
  14. 14. Sträwkcur Skit
  15. 15. Folterkammer
  16. 16. Dogma
  17. 17. Untergrund
  18. 18. Ruhm Und Ehre
  19. 19. Freigeister
  20. 20. Die Schönste
  21. 21. Vorhang Auf Teil 2 (mit Frauenarzt und MC Bogy)
  22. 22. Outro

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8 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 2 Monaten

    Das hier wird als Meilenstein gesehen? Euer Ernst?

  • Vor 2 Monaten

    Ich mag das Album echt sehr gerne. Einmal, weil ich das Konzept/Prinzip mutig finde und bestimmt auch, weil mir eine Zeit lang einfach alles von Taktloss super reinging und ich ein Stück Restbegeisterung/Nostalgie davon noch aus dieser Fanboy-Phase mitgeschleppt habe.

    That being said finde ich schon, dass man insbesondere Basstard, dessen Horrorcore für mich auch sonst nur in seinen stärksten Moment richtig aufgegangen ist, das zeitliche Limit deutlich anmerkt. Ich rechne es ihm hoch an, dass er hier mitgemacht hat, aber das hier ist by design ein Taktloss-Album, dessen Stil das Korsett hier dann auch (erwartbar) viel besser steht. Mit Ausnahme des starken MC Bogy-Parts hat er mMn auch alle Vocal-Highlights des Albums.

    Die Produktionen finde ich all in all zwar auch überraschend stark für die Umstände, aber nur dafür anhören würde sich das (meinetwegen noch mit Ausnahme von Vorhang Auf 2) halt auch keiner.

    Von mir gerade noch 4/5, zugegeben auch das mit Resttönung auf den Gläsern. Meilenstein ist schon ein stretch ^^ Aber war trotzdem nett, mal was darüber zu lesen.

  • Vor 2 Monaten

    Wenn schon ein Taktlos Release, dann wäre es für mich wohl die BRP3.