laut.de-Kritik
Stilfibel des Dancehall mit 28 Gästen und tollen Vibez.
Review von Philipp KauseTechnisch wie ein Zwitter aus Mixtape und Album geschnitten, streift das 60-minütige "Heart Crafted" mit seinen 17 Tracks unterhaltsam durch Dancehall und seine zahlreichen Genre-Geschwister Reggaeton, Lovers Rock, Caribbean Island-Pop, Ragga-Hip Hop, Future Bass, das meiste mit einer Prise One Drop-Reggae durchmischt. Bulby York nennt sich der jamaikanische Produzent, Toningenieur und Label-Betreiber mit dem bürgerlichen Namen Colin Youkat. Seit 30 Jahren im Business aktiv, prägte er u.a. den Sound von Sean Pauls "Dutty Rock".
Auch viele der Riddims, auf denen "Uncle" Beres Hammond erfolgreich sang, gehen auf Bulbys Konto. Hammond, der mit seiner Band Harmony House als Ikone der Liebes-Poesie im Offbeat bis heute ungebrochenen Respekt bei Musikerkollegen einheimst, liefert einen der Höhepunkte des vergnüglich abwechslungsreichen Albums. Dabei ist "Heart Crafted" eine der ziemlich übersehen(st)en Platten von 2020. Ohne Werbung, ohne Clips, ohne großes Social Media-Tamtam, ging das Album zunächst mal Mitte September unter. Klar, selbst im Corona-Ausnahmejahr zog im Frühherbst recht viel Konkurrenz die Aufmerksamkeit an. Auf Soundcloud folgte der erste Upload dann Ende November, ein paar Tage vor Weihnachten wurde stur ein Lyrics-Visualizer ein zweites Mal auf Youtube gepostet. Qualität, das zeigt sich hier wieder mal, ist kein Maßstab, um Gesprächsthema zu werden.
Derweil glüht schon die Liste der beteiligten Namen mit hohem Hotness-Faktor: Agent Sasco, Horace Andy, Beenie Man, Bounty Killer, Busy Signal, Capleton, Ce'Cile Charlton, Charly Black, Jimmy Cliff, Etana, Star-Saxophonist Dean Fraser, Konshens, Lutan Fyah, Maxi Priest, Sizzla – wen will man mehr? Fans des 90er-Dancehalls kommen zudem mit Tanto Metro & Devonte sowie dem romantischen Sanchez auf ihre Kosten. Nu Roots-Fans von heute könnte Kumar Bent anziehen, Soca-Tanzwütige dürften bei Skinny Fabulous aufhorchen.
Europäische Dancehall-Aficionados werden beim Opener von Stylo G wach werden. Da verwebt der Producer-Profi Bulby York geschickt einen Maxi Priest-Klassiker, der bei unserer Rezensentin Yo Mama Fromm schon damals Sympathie erweckte, mit aktuellem Autotuning, fettet die Bässe an und verblendet die beiden Stimmen des UK-Reggae zu einer untrennbaren Fusion. Der Remix von "Easy To Love" strahlt so in bestem Groove-Glanz.
Der leichten Unterhaltung stehen zwei krasse Bass-Nummern gegenüber, die mit Dubstep-Elementen, einem Soca-Riddim und Future Bass-Düsternis in den Soundfarben spielen: Die explizite Sex- und Kiffnummer "Blunts And Back Shots (feat. Marcy Chin & Skinny Fabulous)" profitiert vom Stimmkontrast zwischen der lasziven, rau und trocken rap-toastenden Marcy Chin und dem atemlos straighten Skinny Fabulous aus Saint Vincent, der im Track Sushi rauchen will.
Auch bei "Emergency (feat. Konshens & Tifa)" wackeln die Lautsprecher vor Bass-Vibration, auch hier zündet der Mann-/Frau-Stimmkontrast, wobei Konshens sich auf einen Kastrat-ähnlichen Falsettgesang für die Background Vocals einlässt und in den Lead Vocals maximal viele Silben in seine Parts packt. Es entsteht der Eindruck, einer alten Bounty Killer-Platte beizuwohnen. So umstritten der Typus Bounty Killer nebst Kollege "Fyahman" Capleton auch sein mag, hier reihen sich die beiden neben Elder Reggae-Statesman Jimmy Cliff, der seit acht Jahren keinen Song mehr rausgebracht hatte. Dessen Kollabo mit Bounty Killer ist eine Wiederholungstat, mit Capleton dagegen eine Premiere. Jimmy Cliff presste den Titel vor lauter Begeisterung auf eigene Kosten auf Vinyl. Zu Recht, "Humanitarian" kreuzt auf eine einzigartige Weise die typischen Sixties-Soul-Pop-Hippie-Harmonien Jimmy Cliffs mit Dancehall-Performing im 90er-Style. Flower Power trifft digitalen Soundclash.
Inmitten der vielen Highlights durchmisst Bulby York so viele Stimmungen und Sub-Stile, dass wohl für jede*n Hörer*in die Präferenz auf etwas anderem liegen wird. Aber auch für jeden Karibik-Fan was dabei sein dürfte. Bei mir ist das nun gerade nicht der "Stalag"-Riddim ("Bam Bam" von Toots war die Grundlage, Sister Nancy und Barrington Levy und unzählige andere hatten später Hits auf diesem Bass-Keyboard-Pattern). Wirklich genial erscheint mir dagegen die Rocksteady-Adaption von Duke Ellingtons "Sentimental Mood" mit Saxophon-Lead von Dean Fraser. Vier Minuten, die einen jederzeit gut vom Homeoffice-Koller und anderen Challenges herunterholen können.
Sehr liebevoll wirkt auch das Tracy Chapman-Cover "All That You Have Is Your Soul (feat. Etana & Lutan Fyah)". Obwohl diese Version des einst im Radio totgedudelten Originals erst beim dritten oder vierten Hören mitreißt, muss man Etana lassen, dass sie nach dem Motto "stille Wasser sind tief" mit Subtilität und Vorsicht im Vortrag punktet und den Song mit dezent melancholisch gestimmten Näseln ehrt, statt sich darauf zu profilieren. Bulby York mischt die Soul-Reggae-Lady angenehm in den Hintergrund und lässt auch hier, wie auf dem ganzen Album, den Bässen und lässig geloopten Snare Drums die Hauptrolle. Lutan Fyah verleibt dem wirklich guten Text von Tracy Chapman noch ein paar eigene Gedanken ein, und man merkt, es kommt wirklich aus tiefster Seele.
Und dass Recycling und Covern zu schier elektrisierenden Neuaufgüssen führen kann, beweist "Teenie Weenie (feat. Beres Hammond & Agent 'Assassin' Sasco)". 35 beziehungsweise 22 Jahre haben die beiden Versionen von Beres solo und zusammen mit Lady Saw schon auf dem Buckel, doch was hier passiert, überragt alles aus dem Reggae-Jahr 2020. Agent Sasco lässt sein Feeling für alten Motown- und Doo Wop-Wechselgesang deutlich heraushängen und kläfft mit seiner dominanten Stimme ein paar einzelne Ausrufe und schließlich ein anrührendes Liebesbekenntnis dazwischen. Die beiden vor Verliebtheit "crazy" werdenden Herren, 38 und 65 Jahre jung, ergänzen sich so perfekt, als wären sie die Boygroup von morgen. Die Synthie-Effekte unter ihnen erleuchten den nass-grauen Winter, und alles wird warm. Schöner Kitsch trifft futuristische Dance-Mucke – ganz großes Kino, dieses "Heart Crafted".
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